Hilke Paulsen ist bei einem privaten Eisenbahnunternehmen als Lokführerin angestellt und bietet Kollegen, die Personenunfälle hatten, Hilfe an.
Frau Paulsen, Sie betreiben eine Website für Lokführer. Wie kam es dazu?
Im Jahr 2000 gab es ein schweres Zugunglück in Brühl, an dem ein junger Lokführer beteiligt war. Das hat mich berührt und ich habe mich gefragt, wie man mit so etwas lebt. Mir ist die Idee gekommen, Lokführer durch eine Webseite zu verbinden. Die Thematik ist wichtig, weil es leider zu unserem Beruf gehört. Wir versuchen, die Lokführer darauf vorzubereiten, soweit das möglich ist und ihnen dann die bestmögliche Hilfe anzubieten.
Wie bereitet man Lokführer denn auf so etwas vor?
Meistens wird man schon in der Ausbildung darauf hingewiesen, dass es passieren kann. Zudem ist es wichtig, über die vorhandenen Hilfsangebote zu informieren. Ich bin selbst Betreuungslokführerin – das heißt, wenn Kollegen möchten, können sie das Gespräch mit mir suchen.
Wie oft kommen Personenunfälle vor?
Die Statistik sagt, dass jeder Lokführer im Laufe seiner Dienstjahre drei Personenunfälle hat. Es gibt auch Kollegen, die in den Ruhestand gehen, ohne jemals einen Personenunfall gehabt zu haben.
Mir war gar nicht bewusst, dass das so oft passiert.
Die Zeitungen sind in den letzten Jahren dazu übergegangen, nicht mehr so viel darüber zu berichten. Es gibt nämlich den sogenannten Werther-Effekt: Menschen werden durch die Berichterstattung angeregt, das nachzumachen. Als sich zum Beispiel der Torwart Robert Enke das Leben genommen hat, sind die Suizid-Zahlen in die Höhe geschossen.
Es ist bestimmt schwierig für einen Lokführer, einen Personenunfall zu verkraften und mit dieser Situation umzugehen.
Wir haben den großen Vorteil, dass durch die PZB (Punktförmige Zugbeeinflussung – verschiedene Systeme, die unter anderem die Überwachung einer Schienenstrecke ermöglichen, Anmerkung der Redaktion) ganz genau registriert wird, wie schnell man gefahren ist und wie man gebremst hat. Und dann kann man die PZB auslesen und sich sagen, gut ich bin nicht zu schnell gefahren, ich habe auch so stark gebremst wie möglich. Beim Zug heißt das dann übrigens „Schnellbremsung“ – im Gegensatz zur Vollbremsung beim Auto. Damit hat man den amtlichen Beleg, dass man nichts falsch gemacht hat.
Was ist bei einem Personenunfall für betroffene Kollegen am besten? Sich an Therapeuten wenden, wie es sie in der Stiftungsfamilie gibt oder erst mal mit einem Kollegen zu reden?
Das Beste ist, wenn man sich Zeit lässt. Sich nicht unter Druck zu setzen und nicht unbedingt nach zwei Wochen wieder fahren zu wollen. Dann sollte man sich über die Hilfsangebote informieren. Man kann mit den Kollegen der Krisenintervention reden, sie nehmen sich viel Zeit zuzuhören.
Sind das Psychologen?
Nein, das sind ganz normale Kollegen, die eine Ausbildung absolviert haben, wie man solche Gespräche führt. Ziel ist keine fachlich-psychologische Hilfe, sondern in erster Linie Zuhören. Das bedeutet aber auch für denjenigen, der Krisenintervention anbietet, dass er lernen muss, damit umzugehen, was ihm so erzählt wird. Neben der Krisenintervention gibt es bei der DB zum Beispiel dieses Sorgentelefon, das „MUT“ (Mitarbeiter-Unterstützungsteam) heißt. Ich habe in vielen Gesprächen festgestellt, dass die meisten Menschen ein gutes Gespür dafür haben, was ihnen hilft. Das kann Musikhören sein oder in den Wald gehen, Holz hacken oder joggen. Ein guter Rat ist, auf die innere Stimme zu hören. Auch der Glaube kann Menschen in dieser Situation Halt geben.
Wie lange hat man nach einem Personenunfall Zeit?
Das ist von Person zu Person verschieden. Generell sollte man eben nicht zu schnell wieder in den Zug steigen. Nach einem Personenunfall begleitet einen erstmal ein anderer Triebfahrzeugführer, der im Notfall übernehmen kann. Das ist eine gute Sache, weil man so nicht unter Druck ist, es unbedingt schaffen zu müssen. Ich weiß nicht, ob es da bei uns eine Mindestvorgabe gibt, aber man muss die Leute auch vor sich selbst schützen. Nicht, dass sich jemand überschätzt und denkt, er könne nach drei Tagen schon wieder den Zug fahren. Eine weitere Option ist eine Reha. Ein Kollege von der DB war nach seinem Reha-Aufenthalt in Bad Malente wie ausgewechselt: Man hat ihm richtig angesehen, wie gut ihm das getan hat.
Würden Sie also zu einem Reha-Aufenthalt raten?
Wenn man das möchte, unbedingt! Aber es gibt auch Leute, die es ganz gut so verkraften. Es gibt wirklich viele Hilfsangebote: Psychologen, Betreuungslokführer, die Stiftungsfamilie. Mittlerweile existiert auch eine Facebookgruppe, die sich um traumatische Eisenbahnerlebnisse kümmert, über die man sich austauschen kann. Das ist das Schöne an den modernen Medien, dass man sie auch für Gutes nutzen kann.
Hilfe nach einem Personenunfall finden Lokführer auf der Webseite von Hilke Paulsen unter lokfuehrer-selbsthilfe.de.