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23.02.2022
Auch sieben Monate nach der Hochwasserkatastrophe, die besonders Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hart getroffen hat, ist für viele Bahnerinnen und Bahner längst noch nicht wieder die Normalität eingekehrt – und das privat wie beruflich: Menschen sind gestorben, Häuser unbewohnbar, ganze Landstriche verwüstet und Bahnstrecken auf Jahre zerstört. Tief sitzt das Unglück, das von einer Sekunde zur anderen mitten in unser Leben einbrach. Wie geht es den Betroffenen heute? Wir haben nachgefragt und reden mit Tobias Schumacher über die Schreckensnacht am 14. Juli 2021, die er mit seiner Familie in Euskirchen erleben musste. Außerdem geben wir Ihnen einen Überblick über den Stand der Dinge, stellen Ihnen beispielhaft einige der Spendenaktionen vor und sprechen mit Siegfried Moog, der seit Monaten gemeinsam mit den Mitgliedern der eingerichteten Kommission die Anträge zur finanziellen Hilfe sichtet. Mehr über unsere Hilfe für Betroffene und die Spendenaktion erfahren sie hier.
„Das ist wie ein ständiger Kloß im Hals“
„Es geht mittlerweile wieder ganz gut“, erzählt Tobias Schumacher. „Wir konnten ja immerhin in unserem Haus bleiben – wenn auch sehr eingeschränkt. Aber im Vergleich zu uns hat es andere viel stärker getroffen. Das tut mir so unendlich leid.“ Der Betriebsmanager bei der BVR Busverkehr Rheinland hatte im Dezember letzten Jahres stellvertretend den Ehrenpreis Flutkatastrophe des DB Awards erhalten und war zur virtuellen Verleihung aus dem Kinderzimmer seiner 3-jährigen Tochter zugeschaltet: Das Erdgeschoss seines Hauses war noch unbenutzbar, war es doch vollständig geflutet worden. „Die Heizung hat pünktlich zu Heiligabend wieder funktioniert, und ich bin den Jungs heute noch dankbar, dass sie Extraschichten eingelegt haben, um das möglich zu machen.“
„Dass es so schlimm wird …“
Der Schrecken sitzt dem Familienvater auch nach über einem halben Jahr noch deutlich spürbar im Nacken – wie soll es auch anders sein? Denn das Hochwasser kam vollkommen überraschend nach Euskirchen-Wißkirchen. „Ich weiß noch, dass ich früher von der Arbeit heimkam, weil es schon so stark regnete und die Feuerwehr gewarnt hatte“, erinnert er sich. „Unser Haus liegt ganz in der Nähe vom Veybach, einem Zufluss der Erft, und das Dorf ist von einem weiteren Bachlauf umgeben. Aber dass es dann so schlimm wird …“ Tobias Schumacher ist ein unaufgeregter und optimistischer Mann, der viel Ruhe ausstrahlt und den so schnell nichts umwirft. Gegen diese Katastrophe jedoch war auch er nicht gewappnet.
„Dann trat der Bach über die Ufer“
„Es war am Abend des 14. Juli, als wir erst noch dem Nachbarn helfen wollten, dessen Grundstück ein bisschen tiefer als unseres liegt – zwecklos. Und dann bin ich heim und wir haben Handtücher und Decken vor Fenster und Türen gelegt. Im Nachhinein natürlich totaler Quatsch, aber wer kann denn mit so was rechnen? Gegen 19 Uhr trat der Bach über die Ufer und es gab einen Brückeneinbruch in unserer Nähe. Das Wasser schoss von drei Seiten mit irrem Druck auf uns zu. Wir haben noch wichtige Dokumente und ein paar Fotos und Erinnerungsstücke nach oben geräumt und dann sind wir einfach im 1. Stock geblieben. Gott sei Dank haben die Kinder schon geschlafen – neben unserer Tochter haben wir noch einen Sohn, dessen erster Geburtstag im August buchstäblich ins Wasser gefallen ist –, sodass sie nichts mitgekriegt haben, zumindest nichts von der Nacht. Aber unsere Tochter hat noch wochenlang davon geredet.“
„Wir waren abgeschnitten von der Welt“
Zu diesem Zeitpunkt wäre es bereits unmöglich gewesen, das Haus zu verlassen, berichtet der 35-Jährige weiter. „Die Fluten hatten eine solche Kraft, das hat mich wirklich erschüttert. Aber das Schlimmste für mich kam noch, auch wenn sich das vielleicht komisch anhört: Wir saßen oben im Kerzenlicht, kein Strom, kein Handyempfang, abgeschnitten von der Welt, und sahen draußen schemenhaft Gegenstände vorbeischwimmen. Alles war düster, das ganze Dorf nicht zu erkennen. Es war nur Dunkelheit und nichts um uns herum. Wissen Sie, unser Grundstück ist seit 1906 im Familienbesitz. Erst 2017 haben wir neu gebaut, ein Fertighaus mit Holzständerwerk. Und dann sitzen Sie im Dunkeln, trauen sich nicht nach unten, wissen nicht, ob das Haus hält, wissen nichts von den Nachbarn, den Freunden, die Sie schon ihr ganzes Leben lang kennen. Wir wollen hier nicht weg, aber ich weiß ehrlich nicht, was wir machen, wenn das noch mal passiert.“
„An Schlaf war nicht zu denken“
Gegen Mitternacht beschloss Tobias Schumacher schließlich, im Erdgeschoss nachzuschauen. Das Wasser schien nicht mehr zu steigen und ging dann auch gegen ein Uhr zurück. Dennoch, das Ausmaß der Zerstörung hätte nicht größer sein können. Verzweifelte Versuche, das Wasser nach draußen zu bugsieren, stellten die jungen Eltern schnell ein und versuchten stattdessen, ein wenig Schlaf zu finden. „Das hat natürlich nicht geklappt“, berichtet er weiter. „Meine Frau hat heute noch das Rauschen des Wassers vor dem Haus im Ohr, das da sonst nicht war ... Irgendwann sind wir dann aufgestanden und mit den Kindern erst mal in eine Ferienwohnung. Ich bin aber nach einigen Tagen wieder zurück, weil doch tatsächlich in die leeren Häuser eingebrochen wurde! Ich bin immer noch fassungslos darüber. Und dann begann das Begreifen, was uns und den anderen Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz passiert ist.“
„Ich bedanke mich aus tiefstem Herzen“
Über ein halbes Jahr nach der Katastrophe gehen die Schumachers langsam vom bloßen Funktionieren in die „normale“ Phase über: Das Erdgeschoss ist wieder benutzbar, die Fliesen sind gelegt, Mitte Januar kam endlich die Küche. Auch wenn Tobias Schumacher immer mal ins Schlafzimmer ausweichen muss, wenn er von zu Hause aus arbeitet (seiner Tochter will er das Kinderzimmer nicht mehr streitig machen), ist er dankbar: dankbar dafür, dass seiner Familie nicht noch Schlimmeres geschehen ist, wie so vielen anderen. „Ohne die Hilfe der Bahnerfamilie, meiner Kolleginnen und Kollegen und der Regionalleitung, die uns vor Ort ganz praktisch unterstützt und mich zudem für einige Zeit freigestellt haben, hätten wir das nie geschafft. Ich bedanke mich auch im Namen meiner Frau aus tiefstem Herzen dafür! Es ist schön, zu wissen, dass man nicht allein ist.“
„Wir stehen Ihnen bei“
„Der Zusammenhalt unter den Bahnerinnen und Bahnern ist großartig“, betont Siegfried Moog. „Auch ich bedanke mich herzlich bei allen Spenderinnen und Spendern – nicht nur bei der Deutschen Bahn, sondern bei allen, die nicht eine Sekunde gezögert haben, in die eigene Tasche zu greifen. Ich freue mich ehrlich darüber, in einer Branche zu arbeiten, die von einer gehörigen Portion Anpackungswillen getragen wird. Wir können das Leid der betroffenen Menschen nicht von ihren Schultern nehmen, ihnen nicht die verlorenen Herzenserinnerungen zurückgeben, die Katastrophe nicht rückgängig machen. Aber wir können ihnen beistehen und zumindest materiell unterstützen. Wir erleben derzeit in der Kommission, dass viele Betroffene immer noch keinen Überblick über die gesamte Schadenshöhe haben. Melden Sie sich bitte dennoch bei uns! Wir zahlen auch Teilbeträge aus.“
„Wir betrachten die Lebensumstände“
Die Schäden lägen in der Regel in einer Spanne von einigen Tausend Euro bis hoch in die Zehntausende. Manche Bahnbeschäftigte hätten ihr ganzes Haus verloren, anderen sei bereits mit recht wenig Geld geholfen, wie Siegfried Moog ausführt: „Wir betrachten in der Kommission auch die Lebensumstände. Für Auszubildende etwa, die plötzlich einen Teil ihres Habs und Guts von einem schmalen Gehalt ersetzen müssen, zählt natürlich jeder Euro. Oder es ist ‚nur‘ ein vollgelaufener Keller mit gelagerten Gegenständen, also ist auch hier der finanzielle Schaden nicht allzu hoch. Meist sind dann allerdings wertvolle Erinnerungsstücke für immer verloren. Wir erfahren auch von Situationen, in denen das Büro des sich gerade selbstständig machenden Sohnes oder das Studierzimmer der Tochter, die aufgrund von Corona wieder nach Hause gezogen war, betroffen sind. Es gibt Familien, die lange mit einer instabilen Stromversorgung leben mussten und teilweise nur eine Steckdose für alle notwendigen Geräte des Alltags zur Verfügung hatten.“
„Die Schicksale berühren mich tief“
Manche habe es besonders hart getroffen, schildert Siegfried Moog: „Familien dürfen ihr einsturzgefährdetes Haus seit der Katastrophe nicht mehr betreten und dort auch nicht mehr neu bauen. Andere Familien haben monatelang getrennt voneinander gelebt, bis ein Tiny House bezugsfertig wurde und wenigstens Weihnachten wieder gemeinsam verbracht werden konnte. Einer weiteren Familie, deren Kind mehrfach schwerstbehindert ist, sind die lebenswichtigen Therapiegeräte buchstäblich weggeschwommen. Eine alleinerziehende Mutter war gerade erst in die neue Wohnung gezogen und hat dann von heute auf morgen alles verloren. Eine Frau hatte mit ihrem Vater das Elternhaus saniert, als er plötzlich starb – und dann kam die Flut und nahm ihr auch noch das Haus. Neben materiellen Verlusten erfahren wir von traumatisierten Kindern, die auch heute noch schreckliche Bilder im Kopf haben, von Frauen und Männern, die ängstlich und überfordert sind. Diese Schicksale berühren mich tief. Wir werden alles dafür tun, um diese Menschen zu unterstützen, finanziell über die zur Verfügung stehenden Mittel aus dem Spendentopf und emotional über unsere psychosoziale Beratung unter der Sozialrufnummer 0800 0600 0800.“